von Klaus-Uwe Becker, 15.05.2024
Jeremy James Siegel gehört zusammen mit dem Nobelpreisträger Robert J. Shiller (Irrationaler Überschwang) zu den bekanntesten US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern, die im Allgemeinen eine große Resonanz in der Öffentlichkeit finden.
J.J. Siegel, der als Finanzprofessor an der Wharton School der Universität von Pennsylvania lehrt, ist regelmäßiger Gast in den sozialen Netzwerken CNN, CNBC und schreibt auch u.a. für Yahoo! Finance.
Sein Buch – Langfristig investieren – (Originaltitel: Stocks For The Long Run) erschien zuerst im Jahr 1994 und wurde seitdem mehrfach überarbeitet und ist seit 2006 auch in deutscher Sprache erhältlich
Für wen?
Das Buch ist grundsätzlich für ambitionierte Börsenanfänger geeignet, die die Bereitschaft haben, sich mit dem Thema Aktien etwas intensiver zu beschäftigen. Jedoch sollte bereits ein gewisses Grundwissen über die elementaren Kennzahlen zur Aktienbewertung vorhanden sein. Wie der Titel bereits andeutet, liegt Siegels Schwerpunkt ganz eindeutig in der Analyse des Langzeiteffekts des Investierens. Daytrader und Anleger mit kurzfristigen Anlagehorizonten dürften kaum Freude an diesem Buch finden, es sei denn, sie möchten ihre Position kompetent hinterfragen.
Warum lesen?
Das Buch ist sehr übersichtlich in 5 elementare Teile untergliedert und deckt damit wesentliche Aspekte des Investierens ab.
- Das Urteil der Geschichte
- Bewertung, künftige Aktienrenditen und Anlagestile
- Das konjunkturelle Umfeld von Investitionen
- Kurzfristige Schwankungen von Aktienkursen
- Der Vermögensaufbau mit Aktien
Gleich das erste Kapitel des Teils 1 befasst sich mit einem äußerst interessanten Thema, nämlich den Renditen von Aktien und Anleihen seit dem Jahr 1802 und erstreckt sich somit über die phänomenal lange Zeitspanne von 200 Jahren.
Welche individuelle Tragweite die Lektüre dieses Buches haben kann, zeigt der Verfasser gleich auf seinen ersten Buchseiten. Siegel errechnet für den Anlagehorizont von 200 Jahren eine reale, inflationsbereinigte durchschnittliche Jahresrendite von Aktien in Höhe von 6,9%. Nicht inflationsbereinigt, alle Dividenden reinvestiert, sind es gut 8,3%. Für ein generationsübergreifend ausgerichtetes Aktienportfolio über die gleiche Zeitspanne ergäbe sich aus einem Einmalinvestment von 1.000 USD, getätigt im Jahre 1802, ein phänomenales Wertpapiervermögen in Höhe von gut 8.8 Mrd. USD. Es wird an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont, dass es sich bei diesem Rechenbeispiel um eine einmalige Anlage von 1000 USD in ein so breit wie möglich diversifiziertes Portfolio handelt. Die darin enthaltenen Aktien wären ihrer Marktkapitalisation entsprechend gewichtet, anfallende Dividenden regelmäßig reinvestiert worden. Zusätzliche Investitionen wurden über den gesamten Zeitraum nie getätigt.
Wenn man, wie heutzutage häufig der Fall, über generationsübergreifende Verantwortung diskutiert, sollte dies auch für die Vorteile des generationsübergreifenden Investierens gelten. Die Diskussion erhielte dadurch eine völlig andere Bedeutung. Das Wohlergehen von Familien- Generationen und Körperschaften (Vereine, Universitäten etc.) würde positiv beeinflusst.
Dieser Mechanismus, der ursächlich an die Wirkung des Zinseszinses angebunden ist, sollte grundsätzlich allen jungen Menschen ideologiefrei nahegebracht werden. Das Wissen darüber zu vermitteln, ist unserer Ansicht nach Bestandteil einer gesellschaftlich moralischen Verantwortung, die bei uns allen liegt, Schulen und Bildungsstätten eingeschlossen.
Dass die Aspekte Erbschaftssteuern sowie die Vervielfachung der Nutznießer über mehrere Genrationen bei unseren Berechnungen außen vorgelassen worden sind, muss an dieser Stelle natürlich konzediert werden.
Siegel selbst streift den Aspekt des generationsübergreifenden Investierens leider nur etwas lakonisch, indem er darauf verweist, dass der typische Investor über einen maximalen Anlagehorizont bis zum Ruhestand verfügt und dass kaum jemand die nötige Geduld für lange Investitionszeiträume aufbringt.
Mit zu den weiteren Highlights des Buches zähle ich die Analyse der Entwicklung der sogenannten Nifty-Fifty-Aktien im Kapitel 9, das sich mit der Bewertung, künftiger Aktienrenditen und Anlagestile beschäftigt. Die Nifty-Fifty-Aktien war eine Gruppe großer Large Caps Aktien in den 1960er bis 1970er Jahren, die als solide Haltepositionen für immer angesehen wurden, dann aber im Börsencrash von 1973-74 stark in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Der interessierte Leser kann insbesondere bei der Analyse der Renditen von Nifty-Fifty-Aktien mit hohen und niedrigen Kurs-Gewinn-Verhältnissen (KGVS) wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die mit Sicherheit auch für Investments in die aktuellen Magnificent Seven Aktien (Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla) gelten.
Siegel analysiert die weitere Entwicklung der Nifty-Fifty bis in die Jahrtausendwende hinein. Sein Fokus liegt dabei auf der Beantwortung der Frage nach der gerechtfertigten Höhe von KGVs bei Wachstumsaktien – ein Kernproblem, mit dem sich jeder Investor in Wachstumsaktien befassen sollte bzw. muss.
Siegels Erkenntnisse lassen sich, wie bereits angedeutet, auch auf die Bewertung der Magnificent Seven oder ähnlicher Wachstumsaktien anwenden. Sie sind äußerst hilfreich bei der Beantwortung der Frage, ob eine Wachstumsaktie überbewertet ist oder nicht.

Was weniger gefällt
Persönlich vermisse ich, wie bereits erwähnt, das aktive Propagieren des Generationen-übergreifenden Investierens. Interessant wäre zudem gewesen, etwas mehr darüber zu erfahren, wie Siegel die Kurswerte bis ins Jahr 1802 zurückverfolgen konnte und welche Quellen und Methoden er dabei konkret angewandt hat. Bereits angesprochen wurden ja die in Englisch belassenen Fachausdrücke innerhalb der zahlreichen Tabellen, deren Bedeutung sich ein Börsenanfänger erst einmal selbst erschließen muss. Das dürfte jedoch eher zu Lasten des Übersetzers dieser Ausgabe gehen als zu Lasten des Autors.
Unterhalb der Tabellen findet man dann allerdings eine eingedeutschte Beschreibung des Themas der jeweiligen Tabelle. Die Fachausdrücke selbst, betrifft dies jedoch nicht.
Wenn man weiß, dass die meisten qualitativ hochwertigen Analysen und Beiträge zu Finanzen und Börse fast ausschließlich in englischer Sprache vorliegen, kann dies als zusätzliche Motivation dienen, sich mit diesen Begriffen vertraut zu machen. Dass das so ist, liegt an dem gering ausgeprägten Interesse an derartigen Themen im deutschsprachigen Bereich
Finales Urteil
Langfristig Investieren gehört meiner Ansicht nach zu den zehn besten Büchern, die über Wertpapieranlage geschrieben wurden. Es ist ein Buch, dass man durchaus zwei bis dreimal lesen kann, wahrscheinlich sogar sollte, um all die wesentlichen Aspekte und Details zu überblicken und aufnehmen zu können. Dabei ist es unerheblich, ob man sich lediglich einzelne Kapitel zur erneuten Lektüre herauspickt oder einfach gleich das gesamte Buch noch einmal von vorn liest.
Siegels Sprache ist auch für Laien gut verständlich, die zahlreichen Tabellen sind instruktiv und mit etwas sprachlichem Talent auch gut zu verstehen bzw. interpretieren. Etwas fremdsprachliches Wissen ist, wie bereits angedeutet, erforderlich.
Disclaimer:
Jeder Artikel gibt die persönliche Meinung des jeweiligen Verfassers wieder. Diese ist das Ergebnis eigener Recherchen, die nach bestem Wissen und Gewissen und mit großer Sorgfalt durchgeführt worden sind. Es handelt sich dabei nicht um eine Wertpapierberatung bzw. Aufforderung zum Kauf von Wertpapieren. Vorsorglich wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Erwerb von Wertpapieren mit gewissen Risiken verbunden ist, mit Risiken, die im schlimmsten Fall zum Totalverlust des eingesetzten Kapitals führen können.
Es wird ferner darauf verwiesen, dass Wertpapierkäufe auf sorgfältige eigene Analysen und Recherchen gegründet sein sollten. Weder Retail Investor, noch der/die Verfasser eines Artikels haften für etwaig entstandene Verluste.
Retail Investor – Klaus-Uwe Becker